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Einleitung AbschlussarbeitWann ist ein Christ ein Christ?Das reformierte Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmationauf dem PrüfstandErwin SennIGW International ist eduQua-zertifiziertPublikationAugust 17CopyrightIGW, Josefstrasse 206, CH - 8005 ZürichTel. 0041 (0) 44 272 48 08, [email protected], www.igw.eduÄnderungen vorbehalten
Einleitung AbschlussarbeitVorwortIGW – Theologie für die Praxis„Der Auftrag der Kirche in dieser Welt ist es, der Mission Gottes zu dienen. Und der Auftrag der theologischen Ausbildung ist es, die Kirche in diesem Auftrag zu stärken und zu begleiten.“ (Kapstadt Verpflichtung, 2010:73)IGW hat sich von jeher zu einer engen Zusammenarbeit mit lokalen Kirchen und Werken verpflichtet. AlsPartner bilden wir (zukünftige) Leiterinnen und Leiter aus und weiter, die das Evangelium leben und so Kirche und Gesellschaft erneuern. Dabei erwarten wir, dass Gottes Reich auf dieser Welt sichtbar wird – in veränderten Menschen, in veränderten Kirchen sowie darüber hinaus in einer veränderten Gesellschaft.In unseren Bildungsangeboten werden Fragen aus der Praxis aufgenommen und Möglichkeit geschaffen,diese zu reflektieren und wirkungsvolle Strategien zu entwickeln, die wieder in der Praxis umgesetzt werden. So wird theologische Weiterbildung relevant – für die Studierenden, für Kirchen und für die Gesellschaft.Diese enge Verknüpfung von theologischem Arbeiten und lokalem Dienst in einer Kirche kommt u. a. in denBachelor- und Masterarbeiten von IGW zum Ausdruck. Die intensive Beschäftigung mit einem relevantenThema stellt sowohl für den Studierenden selbst, aber auch für seine Praxis und damit für seine Kirche –und sogar darüber hinaus – eine gewinnbringende Erfahrung dar. Die Schulleitung von IGW freut sich daherüber die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit. Möge sie vielen Menschen und Organisationen zum Gewinn werden.Auf unserer Website stellen wir seit 2008 online alle „sehr guten“ und „hervorragenden“ Abschlussarbeitenkostenlos zur Verfügung. Sie finden Sie unter www.igw.edu/downloads, wo auch viele andere Ressourcenkostenlos zur Verfügung stehen. Ein Besuch lohnt sich.IGW gehört mit über 340 aktiven Studierenden zu den grössten theologischen Ausbildungsstätten imdeutschsprachigen Europa. Unser Angebot umfasst eine grosse Vielfalt an Aus- und Weiterbildungen: Vomeinzelnen Seminar, über Kurzprogramme und die mehrjährigen Aus- und Weiterbildungsgänge auf Bachelor- und Masterlevel bis zur Möglichkeit einer Dissertation (bei GBFE/Unisa). Wir haben für jeden daspassende Angebot!Weitere Informationen finden Sie auf www.igw.edu.Für die SchulleitungMichael Girgis, Rektor IGWerstellt: 28.08.17,/ mg2
WANN IST EIN CHRIST EIN CHRIST?Das reformierte Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmationauf dem Prüfstand –fünf & neun Thesen zu den Wurzeln, den Entwicklungen und neuen Perspektivender Taufe in der reformierten Kirche im Kanton Zürichaufgrund einer literarischen UntersuchungErwin SennBA-Abschlussarbeit; Bachelor of Arts in SozialdiakonieFachmentor: Pfr. Adrian BeyelerStudienleiter: Beat HedingerMai 2017 / IGW International, Zürich
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem PrüfstandIVORWORT«500 Jahre Reformation». Meine Abschlussarbeit gerade im Jahr des Reformationsjubiläums 2017fertigzustellen, war (von mir) nicht geplant. Doch zeitlich und thematisch passt alles gut zusammen.Seit mehreren Jahren beabsichtigte ich, mich in meiner Abschlussarbeit mit weiterführendenReformen innerhalb der reformierten Kirche1 auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang kammir die Idee, die Ergebnisse meiner Arbeit – in Anlehnung an die 95 Thesen Luthers – in fünf undneun Thesen auf den Punkt zu bringen.In meiner Abschlussarbeit wollte ich ursprünglich den Begriff «Volkskirche» kritisch unter die Lupenehmen. Es stört mich nämlich, dass in der Kirche mit dem Ausdruck «Volkskirche» manchmal allesMögliche und Unmögliche legitimiert wird. Allmählich wurde mir jedoch bewusst, dass diesesThemenfeld für mich viel zu umfangreich wäre für eine Bachelorarbeit. Gleichzeitig stellte ich fest –dabei bestätigte sich für mich eine Vermutung –, dass die Frage nach der Taufe einen zentralenPunkt im Themenfeld «Volkskirche» darstellt2.In meiner Biografie gibt es diverse Berührungspunkte mit dem Themenkreis «Taufe». Damit war dieFokussierung auf das Thema «Taufe in der reformierten Kirche» relativ schnell klar. Weber(2008b:15) stellt fest, dass Theologie und (kirchliche) Biografie nicht selten konvergieren, «bei derTaufe in aller Regel». Um bezüglich meines Glaubenshintergrunds transparent zu sein, primär aberum meine persönlichen Berührungspunkte mit dem Thema Taufe aufzuzeigen, skizziere ich in allerKürze meine Glaubensbiografie.Aufgewachsen bin ich in einem verhältnismässig «frommen» reformierten Elternhaus im ZürcherOberland. Ich wurde traditionell kirchlich sozialisiert. Im Säuglingsalter fand meine «Taufe» statt –die Anführungszeichen sind bewusst gesetzt. Zuhause erzählten meine Eltern meinen Geschwisternund mir biblische Geschichten, wir beteten vor dem Essen und vor dem Zubettgehen, späterbesuchte ich die Sonntagschule. Alles schien normal und ordentlich zu verlaufen. In der Zeit vor derKonfirmation begann ich mich dann aus eigenem Antrieb mit Glaubens- und Lebensfragen zubeschäftigen. Zunehmend empfand ich eine Diskrepanz zwischen dem traditionellen kirchlichenWeg einerseits und meinen Ansichten und Erkenntnissen andererseits. Mir wurde klar, dass meineKonfirmation die Bestätigung meines Glaubens bedeuten sollte. Eigentlich fühlte ich mich nichtbereit dazu – rückblickend war der Zeitpunkt mit sechzehn Altersjahren für mich eindeutig zu früh.1Seit der Reformation im 16. Jahrhundert haben sich reformatorische Kirchen als Wahlspruch die Aufgabe derfortlaufenden Reformierung auf die Fahne geschrieben («ecclesia reformata semper reformanda»; vgl. z. B.Rüegger 2007:4).2«Die Taufe erweist sich als Brennpunkt, in dem verschiedene ‹Debatten› zusammenlaufen und sich Fragendes Christ- und Kircheseins . verdichten» (Weber 2008a:12). IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem PrüfstandIIDie Konfirmation brachte bei mir nicht die erhoffte Wirkung – im Gegenteil. Halbherzig beteiligteich mich bei der Konfirmationsfeier, aber von freudigem Glauben war da keine Spur.Darauf folgten mehr als zehn Jahre eines persönlichen Auf und Ab. Im Alter von 18-19 Jahrenunternahm ich mehrere erfolglose «Selbstbekehrungsversuche». Innerlich war ich stark zerrissen.In den folgenden Jahren lebte ich mehr oder weniger distanziert zur Kirche. Zutiefst in meinemHerzen «wusste» ich aber, dass ich nicht ohne Gott bzw. Jesus Christus leben könnte. Aufgrundmeines anständigen und freundlichen Verhaltens wurde ich oftmals gefragt, ob ich Christ sei. Ichwusste nicht recht, wie ich antworten sollte. Mein halbherziges und ängstliches «Ja» ekelte michselber an, denn ich war relativ sicher, dass Christsein bedeutend mehr wäre als das Bemühen umeinen anständigen Lebenswandel. Mit diversen Aspekten meines Lebens – Arbeit, Wohnsituation,persönliche Entwicklung, etc. – wurde ich zunehmend unzufrieden.Spezielle Erlebnisse und Begegnungen führten mich zu einer entschlossenen Lebensübergabe anJesus Christus. – Der Friede Gottes und der Heilige Geist erfüllten mich. Gleichzeitig empfand icheinen riesigen geistlichen Durst, den ich mit viel Bibellesen und Beten stillte. Bald schon erwachte inmeinem Herzen der Wunsch, mich taufen zu lassen. Ich wollte meinen frisch gewonnenen Glauben(bzw. mein Christsein) mit anderen teilen und ich wollte meine Hinwendung zu Jesus bezeugen.Meine «Taufe» als Säugling bedeutete für mich höchstens noch eine halbe Sache3.Nun stand ich aber vor einem mehrfachen Dilemma: Ich wollte mich taufen lassen, durfte diesjedoch – laut reformierter Kirchenordnung (und -praxis) – nicht. Ebenso wollte ich nicht einereformierte Pfarrperson in ihrer Amtsausführung gefährden, indem sie eine «Wiedertaufe»durchführen würde. Ein «Taufintermezzo» in eine Freikirche kam für mich ebenfalls nicht in Frage.Zu stark war ich in der reformierten Kirche verwurzelt. Zugleich ahnte ich deutlich, dass dieHinwendung zu Jesus Christus, der Empfang des Heiligen Geistes und die Taufe zeitlich engzusammengehören (bzw. zusammengehören würden). Je länger ich also wartete, meinenTaufwunsch umzusetzen, umso grösser würde die zeitliche Diskrepanz zwischen meinerLebenswende und meiner – vielleicht doch noch möglichen – Taufe. Im nächsten Pfingstgottesdienstdurfte ich zeugnishaft von meinem Erleben erzählen. Mein Wunsch, mich taufen zu lassen, kamdadurch aber nicht zur Ruhe. Angesichts der «offiziellen Unmöglichkeit» verdrängte ich diesesVerlangen jedoch zusehends.Einige Jahre vor dem Beginn meines IGW-Studiums und meiner Abschlussarbeit wurde das Themajäh «aus dem Schlaf geweckt». Meine Frau und ich bekamen einen Sohn. Wir tendierten zu einerSegnung anstelle einer Säuglingstaufe. Dies rief meine Eltern und Schwiegereltern auf den Plan. Sie3Sallmann & Huwyler (2004:9) schreiben betreffend Wunsch nach einer «Wiedertaufe», dass es sich oft umengagierte Mitglieder handle, welche die an ihnen als Säuglinge vollzogene Taufe nur schwer als solcheanerkennen könnten. – Ja, genau das traf auf mich zu. IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem PrüfstandIIIkonnten unsere Absicht lange Zeit nicht verstehen und akzeptieren. Sie drängten auf eine«ordentliche» Taufe. Je mehr sie aber argumentierten, umso mehr beschäftigten sich meine Frauund ich mit diesen Fragen. Dabei verstärkte sich unsere Überzeugung, dass wir unser Kind segnenlassen wollten – auch wenn dies sowohl in unseren Herkunftsfamilien als auch in unsererKirchgemeinde «nicht normal» sein und zum ersten Mal geschehen würde.Weitere Erfahrungen trugen dazu bei, dass ich mich in meiner Abschlussarbeit vertieft mit Fragenrund um Säuglingstaufe und Konfirmation und mit neuen Perspektiven der Taufe in derreformierten Kirche auseinandersetzen wollte: Erstens das Erleben von diversen Taufgottesdienstenin unserer Kirchgemeinde – nach meinem Empfinden waren das normalerweise so etwas wie«Segnungen mit Wasser» –, zweitens die vertieften Auseinandersetzungen mit der Kirchenordnungin meinen sieben Jahren als Mitglied der Kirchenpflege sowie drittens unsere Erfahrungen im vonmeiner Frau und mir angebotenen Kinderhüte-Dienst während Taufgottesdiensten.Noch ein Wort zum Titel meiner Arbeit: Zumindest den nicht mehr ganz jungen Leuten unter uns istder Name Herbert Grönemeyer noch ein Begriff. Sein Lied Männer bzw. seine wiederholte Frage «Wannist ein Mann ein Mann?» hat mich für den Titel meiner Abschlussarbeit inspiriert. Wann ein Christein Christ ist, war in meinem Lebenslauf eine wichtige Frage. Ich bin überzeugt, dass der Kern dieserFrage, die Beziehung mit dem Schöpfer und Erlöser, der zentrale Punkt im Leben eines jedenMenschen ist (bzw. sein müsste). In dieser Arbeit geht es jedoch nicht primär ums Christ-Sein,sondern ums Christ-Werden.Über das Thema «Taufe» ist in den vergangenen 1'900 Jahren schon sehr viel – und oftmalskontrovers – «theologisiert» und geschrieben worden. Dennoch glaube ich, dass ich mit meinerAbschlussarbeit einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Ich hoffe, diese Arbeit regt zum Mit- undNachdenken an. Womöglich fordert sie auch zu einer persönlichen Reaktion heraus.Ich wünsche Ihnen bzw. Dir, liebe Leserin, lieber Leser, Gottes Segen und Geleit beim Lesen. IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem PrüfstandiINHALTSVERZEICHNISVORWORT . I1 EINLEITUNG. 11.1Die Problemstellung.11.2Vorgehensweise und Gliederung .21.3Abgrenzungen: Was in dieser Arbeit nicht behandelt wird .32 BEGRIFFSBESTIMMUNGEN . 42.1Säuglings- bzw. Kleinkindertaufe, Erwachsenentaufe, etc. – Segnung .42.2Christen – Nachfolger / Jünger – Gläubige – Kirchenmitglieder.52.3Kirche – Gemeinde – Christenheit – Christentum .53 THEOLOGIEGESCHICHTLICHER ÜBERBLICK – URSPRUNG UND ENTWICKLUNGDER (SÄUGLINGS-) TAUFE . 63.1Neues Testament und hebräisch-jüdische Wurzeln .63.1.1Ursprünge der christlichen Taufe im Neuen Testament und im Judentum . 63.1.2Elemente des Bekehrungs- und Taufgeschehens . 103.2Entwicklungen im Lauf der Kirchengeschichte .113.2.1Frühchristliche Zeit – Alte Kirche – Röm.-kath. Kirche – Mittelalter . 113.2.2Reformation: Zwingli, Bullinger und die Täufer . 143.2.3Entwicklungen im 20. Jahrhundert. 153.3(Säuglings-) Taufe und Konfirmation heute .193.3.1 gemäss der reformierten Zürcher Kirchenordnung von 2009 / 2010 . 193.3.2 nach dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) . 213.3.3Heutige Bedürfnisse von Eltern und Interessen der Kirche. 233.4Zusammenfassende Übersicht – Die Taufe im Wandel der Zeit .24 IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstandii4 THEOLOGISCHE FRAGESTELLUNGEN ZU WIRKUNGEN DER (SÄUGLINGS-) TAUFE . 264.1Wirkt die Taufe Sündenvergebung? .264.2Ist die Taufe heilsnotwendig? .274.3Ist die Wassertaufe Zeitpunkt des Geistesempfangs und der geistlichen Wiedergeburt? .294.4Ist die Taufe ein Bundeszeichen bzw. ein Zeichen der «vorlaufenden Gnade»? .30Exkurs: Können Eltern (und Paten) «stellvertretend glauben»? . 334.5Erfolgt durch die Taufe die Eingliederung in die Gemeinde? .344.6Kann eine Taufe «gültig» oder «ungültig» sein?.374.7Ist die Taufe ein Sakrament? .384.8Und nun – Was ist die Taufe? .395 SÄUGLINGSTAUFE UND KONFIRMATION AUF DEM PRÜFSTAND . 415.1Was spricht für Säuglingstaufe und Konfirmation? .415.2Sind Säuglingstaufe und Bekehrungstaufe bzw. «Gläubigentaufe» vereinbar? .435.3Zum Anliegen der «Wiedertaufe».455.4Tauferneuerung, Taufgedächtnis, Taufbestätigung als Alternativen? .475.5Was spricht gegen Säuglingstaufe und Konfirmation? .485.6Der Kreis schliesst sich – Macht die Taufe einen Menschen zu einem Christen?.506 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE UND AUSBLICK – FÜNF & NEUN THESEN . 516.1Fünf Thesen zu den Wurzeln und Entwicklungen der Taufe in der reformierten Kircheim Kanton Zürich .516.2Neun Thesen zu neuen Perspektiven der Taufe in der reformierten Kirche .53LITERATURVERZEICHNIS . 56ANHANG. AAnhang A – Inhaltsübersicht Anhang . A IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstand11 EINLEITUNG1.1Die Problemstellung«Wir sind doch alle Christen!» Für viele Leute schien dies hierzulande noch vor zehn oder zwanzigJahren eine Selbstverständlichkeit zu sein. Man ist ja schliesslich in der Kirche getauft undkonfirmiert4 worden. Aber ist das wirklich so: Sind wir alle Christen? Was ist überhaupt ein Christund wie wird man Christ? Macht die Taufe, oder genauer gesagt, irgendeine Art der Taufe, auseinem Menschen einen Christen?Aufgrund meines persönlichen Erlebens waren und sind diese Fragen für mich hochaktuell. Undnicht nur für mich: Mit dem gesellschaftlichen Wandel zeigt sich deutlicher als je zuvor, dass dieBevölkerung nicht einfach nur aus Christen besteht. Wir befinden uns in einem «nach-christlichen»Kontext und Zeitalter.5 Dadurch werden alte Fragen wieder aufgeworfen, die über vieleJahrhunderte latent vorhanden waren, aber kaum zur Debatte standen. Es ist an der Zeit, dass sichdie Kirche diesen Fragen stellt, weil diese Fragen das Christ-Sein und das Kirche-Sein in ihrem Kernbetreffen.6Die Hypothese, die ich zu Beginn meiner Abschlussarbeit formuliert hatte, lautet wie folgt:Die Taufe (allein) macht aus einem Menschen keinen Christen. Mit der Taufe ist es nicht getan. Es gibt kein«automatisches» Christwerden.Um die obige Hypothese zu verifizieren und die Hintergründe auszuleuchten, bin ich in dieserArbeit folgenden Fragen nachgegangen: Worauf gründet sich das heutige Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation in derreformierten Kirche im Kanton Zürich? Welches sind die neutestamentlichen und kirchengeschichtlichen Hintergründe? Welche theologischen Überlegungen und Argumente stehen hinter Säuglingstaufe undKonfirmation? Was spricht dagegen? Welche Auswirkungen hat dieses Konzept auf die einzelnen Menschen und die reformierteKirche als Ganzes? Was steht mit der Säuglingstaufe letztlich auf dem Spiel?4bzw. gefirmt (im Fall der röm.-kath. Kirchenzugehörigkeit)5«Während wir längst in einem nach-christlichen Kontext leben, denkt und arbeitet die Kirche weiter so, alswäre die Gesellschaft christlich» (Frost & Hirsch 2009:25).6«Für die Lehre und das Leben der christlichen Kirchen hat die Taufe grundlegende Bedeutung» (Bendik,Sallmann & von Allmen 2010:3). «Taufdebatten sind faktisch, wenn auch unbewusst, ekklesiologischeDebatten» (Christian Albrecht, zitiert nach Weber 2008b:28). IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstand2Mir ist es wichtig, nicht bei dieser Analyse stehenzubleiben, sondern daraus auch neue Perspektivenfür die Taufe in der reformierten Kirche aufzuzeigen.Weil die Taufe in der reformierten Kirche je nach Reformator und Kirchengebiet unterschiedlichausgeprägt ist, konzentriere ich mich auf die auf Huldrych Zwingli zurückgehende Form in derreformierten Kirche im Kanton Zürich7, in der ich aufgewachsen und der ich immer noch zugehörigbin.1.2Vorgehensweise und GliederungA) Zu meinem Vorgehen:Die biblischen Grundlagen sind mir sehr wichtig. Dennoch habe ich nicht die Exegese alsForschungsart gewählt, weil es sich betreffend Taufe um einen «brüchige[n] und weitverstreute[n]Textbefund» handelt und sich im Neuen Testament weder für Taufpraxis noch für Tauflehre eineumfassende und einheitliche Textgrundlage findet (vgl. Bendik, Sallmann & von Allmen 2010:6).Ich habe mich für eine Literaturstudie entschieden, weil dadurch mehr Fragestellungen rund umSäuglingstaufe und Konfirmation ins Blickfeld geraten und damit ein Überblick über das gesamteThemenfeld ermöglicht wird. Die neutestamentlichen Schriften8 und daraus hervorgehendeexegetische Erkenntnisse haben darin einen wichtigen Stellenwert (vgl. 3.1). Interessant wäre aucheigenes empirisches Forschen gewesen, mit Umfragen bei Pfarrpersonen, etc. Dies hätte aber denRahmen dieser Arbeit bei weitem gesprengt.B) Zur Gliederung:Um Missverständnisse zu vermeiden, stelle ich eine Begriffsbestimmung an den Anfang der Arbeit(ab Seite 4). In drei Begriffsgruppen erläutere ich, wie ich die Begriffe verstehe und in dieser Arbeitverwende. Dabei beziehe ich auch abweichende Verwendungsarten von anderen Autoren mit ein.Danach folgt ein theologiegeschichtlicher Überblick (Kapitel 3). Hier beleuchte ich die Ursprüngeder christlichen Taufe im Neuen Testament und im Judentum. Sodann untersuche ich dieEntwicklungen im Lauf der Jahrhunderte – mit einem besonderen Fokus auf das Entstehen vonSäuglingstaufe und Konfirmation. Anschliessend gehe ich auf die heutige Situation in derreformierten Kirche im Kanton Zürich ein.7An dieser Stelle ist es mir wichtig, auf eine Nuance im Titel meiner Abschlussarbeit aufmerksam zu machen.Ich habe bewusst «reformierte Kirche im Kanton Zürich» geschrieben, obwohl es bis jetzt offiziell noch«reformierte Kirche des Kantons Zürich» heisst. Letzteres impliziert m. E. einen Territorial-Anspruch,während «im» eine Gebiets-Zuordnung ausdrückt. Das vor ein paar Jahren eingeführte Logo «reformierteKirche Kanton Zürich» lässt beides offen – damit kann die Verhältnisbestimmung angepasst werden.8Wenn nicht anders angegeben, verwende ich die Zürcher Bibel von 2007. IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstand3In Kapitel 4 untersuche ich einige theologische Fragestellungen zu Wirkungen der Taufe. Dabeistehen die hinter der Säuglingstaufe stehenden Überlegungen und Begründungen wiederumbesonders im Fokus.Im Kapitel 5 folgt eine Zusammenstellung von Argumenten, die für oder gegen Säuglingstaufe undKonfirmation sprechen. Zudem gehe ich den Fragen nach, ob Säuglings- und Bekehrungstaufe ineiner Gemeinde vereinbar sind, welches Anliegen hinter der sog. «Wiedertaufe» steht und inwiefernsich Taufgedächtnis und -bestätigung als Alternativen anbieten.Den Abschluss meiner Arbeit bilden meine fünf und neun Thesen: Zuerst fünf Thesen zu denWurzeln und Entwicklungen der Taufe in der reformierten Kirche im Kanton Zürich. Anschliessendneun Thesen zu neuen Perspektiven der Taufe in der reformierten Kirche.1.3Abgrenzungen: Was in dieser Arbeit nicht behandelt wirdWie oben bereits angetönt, fokussiere ich mich auf Zwingli und die von ihm geprägte reformierteKirche im Kanton Zürich. Auch wenn da und dort Einflüsse von Luther oder Calvin auf die ZürcherKirche unverkennbar sind, kann ich nicht vertieft auf die Tauftheologie der anderen Reformatoreneingehen, genauso wenig wie auf die Auseinandersetzungen zwischen ihnen und Zwingli. Auch eineausführliche Behandlung der Täuferbewegung oder die Tauftheologie und -praxis andererchristlicher Konfessionen ist nicht Gegenstand dieser Arbeit.Die Form(en) der Taufe – die Frage des Untertauchens, Tauf-Liturgien, Gottesdienst-Ordnungen, etc. –sind in dieser Arbeit kein Thema. Auch auf die Geistes- bzw. Geisttaufe oder die sog. Taufe im HeiligenGeist gehe ich nicht vertieft ein, sondern verweise auf Grudem (2013:845ff.), dessen Ausführungenich als sehr hilfreich empfinde.In dieser Arbeit geht es primär ums Christ-Werden. Auf das Christ-Sein und -Bleiben und dendazugehörigen Prozess der Heiligung kann ich hier nicht eingehen.Zwischen Taufe und Abendmahl gibt es viele Verbindungen. Diese kommen in der vorliegendenArbeit jedoch nur am Rande zur Sprache. Das Abendmahl erscheint dann erst wieder unter den«Themen zum Weiterdenken» (vgl. Anhang U), ebenso wie die ökumenischen und ekklesiologischenErwägungen. IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstand42 BEGRIFFSBESTIMMUNGEN2.1Säuglings- bzw. Kleinkindertaufe, Erwachsenentaufe, etc. – SegnungDie Hauptbegriffe, die ich in dieser Arbeit verwende, sind Säuglingstaufe und als «Gegenstück»Bekehrungstaufe. In der Literatur sind häufig auch folgende Ausdrücke anzutreffen: Kindertaufe,Erwachsenentaufe und Glaubens- bzw. Gläubigentaufe. Weitere Begriffe sind Mündigentaufe,Bekenntnistaufe, Berufungstaufe. Bei diesen Ausdrücken geht es um Alter, Mündigkeit und weitereMerkmale bei den Täuflingen. Zusätzlich wird uns der Begriff Segnung im Lauf dieser Arbeitmehrmals begegnen.Säuglings- bzw. Kleinkindertaufe: Der Begriff Säuglingstaufe wird häufig verwendet, ist aber m. E.etwas zu eng gefasst. Allgemein wird mit dem Säuglingsalter das erste Lebensjahr bezeichnet. DasWort Kleinkindertaufe trifft es allein aber auch nicht besser. Es umfasst nur Kinder von ca. einem bisvier Jahre, nicht aber diejenigen im ersten Altersjahr.In meiner Arbeit verwende ich Säuglings- und Kleinkindertaufe synonym. D. h. ohne spezielleErwähnung ist beides mitgemeint. Der Lesbarkeit zuliebe schreibe ich meistens nur«Säuglingstaufe». Manchmal fasse ich Säuglinge und Kleinkinder auch als «kleine Kinder»zusammen – als Abgrenzung von älteren Kindern, die sich bewusst zu Glauben und Taufe äussernkönnen (vgl. dazu Bendik, Sallmann & von Allmen 2010:27).Kindertaufe: Kindertaufe ist ein unscharfer Begriff. Einige Autoren meinen damit die Säuglingsoder Kleinkindertaufe, andere die Taufe von Kindern, die (von sich aus) getauft werden wollen. Inder vorliegenden Arbeit verwende ich diesen Ausdruck nicht, ausser wenn ich mich direkt aufAutoren beziehe, die von Kindertaufe sprechen.Erwachsenentaufe: Vielfach wird das Wort Erwachsenentaufe als Gegensatz zu «Kindertaufe» bzw.Säuglingstaufe gebraucht. Was jedoch ist mit Jugendlichen oder Kindern, die sich für ein Leben inder Nachfolge von Jesus Christus entschieden haben und sich taufen lassen wollen? Ab wann ist einMensch erwachsen? Ich verwende den Begriff nicht, weil ich ihn unklar finde.Glaubens- oder Gläubigentaufe: Diese beiden Ausdrücke werden häufig als «Gegenstück» zurSäuglings- oder Kindertaufe verwendet. «Gläubigentaufe» hat sich v. a. im ökumenischen Dialogetabliert (Kerner 2004:15). Mit Glaubens- oder Gläubigentaufe ist die oft als «Gehorsamsakt» vollzogeneTaufe im Sinne eines Glaubensbekenntnisses des (schon vorhandenen) Glaubens gemeint oder siewird als Symbol der (bereits erfolgten) Wiedergeburt verstanden (vgl. Stettler 2015:37f.). Die Taufewird hier aber tendenziell von Bekehrung, Wiedergeburt und Geistempfang gelöst (:39).Problematisch erscheint mir zudem, dass der Glaube – hier als Voraussetzung für die Taufe – nichtüberprüfbar ist. IGW InternationalErwin SennMai 2017
Wann ist ein Christ ein Christ? Das ref. Konzept von Säuglingstaufe und Konfirmation auf dem Prüfstand5Bekehrungstaufe: Der Begriff Bekehrungstaufe trifft den neutestamentlichen Sinn der Taufe wohlam besten. Hier gehören Bekehrung, Glaube, Taufe, Wiedergeburt und Geistempfang zusammen(vgl. Stettler 2015:38f.). In volkskirchlichen Kreisen mag dieses Wort auf den ersten Blick fremdanmuten; vgl. deshalb meine Erläuterungen zu «Bekehrung» in Anhang I. Eine synonymverwendbarer, aber wenig gebräuchlicher Ausdruck ist «Busstaufe» (vgl. z. B. Kunz 2008:106).Segnung: In dieser Arbeit bezeichnet Segnung ein liturgisches Element der gottesdienstlichen Feier,in dem für ein neugeborenes Kind (und seine Eltern) um Gottes Segen gebeten wird.Weiterführende Gedanken zur Segnung finden sich in Anhang T.Zu Mündigen-, Bekenntnis- und Berufungstaufe siehe Anhang C.2.2Christen – Nachfolger / Jünger – Gläubige – KirchenmitgliederDie Grundfrage «Wann ist jemand ein Christ?» führt zur Frage: «Was ist ein Christ?» Die Gleichung«Getauft Kirchenmitglied Christ» stelle ich hier infrage – für mich geht sie nicht auf. Christseinhat nämlich mit einer gelebten Beziehung mit Christus zu tun.Die weiteren Ausführungen zu diesen Begriffen sind in Anhang D zu finden.2.3Kirche – Gemeinde – Christenheit – ChristentumWas stellen Sie sich vor, wenn Sie «Kirche» hören? – Ein Gebäude? Eine Gemeinschaft? Eine lokaleKirchgemeinde? Eine regionale, kantonale oder nationale kirchliche Institution? Eine Konfession?Die eine, weltweite Kirche? Kirche oder Kirchen? – Die Bedeutungsvielfalt ist enorm; dieser «Begriff»ist alles andere als eindeutig. Darauf hatte schon Luther hingewiesen (vgl. Rothen 2015:5ff.). Ausdiesem Grund verwende ich diesen Ausdruck zurückhaltend.Wenn ich in dieser Arbeit von Kirche spreche, dann meine ich damit keinesfalls ein Gebäude odereinen Versammlungsort. Ich bezeichne damit entweder die gesamte (wel
dabei bestätigte sich für mich eine Vermutung –, dass die Frage nach der Taufe einen zentralen Punkt im Themenfeld «Volkskirche» darstellt2. In meiner Biografie gibt es diverse Berührungspunkte mit dem Themenkreis «Taufe». Damit war die Fokussierung auf das Thema «Taufe